Predigt am Ostersonntag 2015

Liebe Gemeinde,

es war Sabbat, als die beiden Frauen sich erinnerten, wie alles gekommen war.  Damals, am See Genezareth hatten sie ihn zum ersten Mal gesehen. Kein Mann, wie die anderen, er arbeitete nicht. Er zog nicht mit Netzen aus und hobelte kein Holz – obwohl er es gelernt hatte, wie er ihnen später erzählte. Er ging nicht aufs Feld, um zu säen und zu ernten. Er war anders. Er redete von alledem, und er redete von Gott. Einen solchen Mann hatten die galiläischen Frauen nie gesehen. Einen, der sie mitten ins Herz traf, mit seinen Worten.

Er sagte, er wollte Menschen fischen und das Wort Gottes aussäen, damit etwas daraus wachsen könne. Und damit hatte er sie in den Bann gezogen. Sie ließen alles stehen und liegen und folgten ihm. Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus. Und noch einige andere, Männer und Frauen.

Sie folgten ihm, Jesus, und hörten ihm zu. Sie halfen ihm, wenn er lehrte und fragten, wenn sie etwas nicht verstanden. Er heilte Kranke und redete von Gott so, dass jeder es verstand. Er öffnete den Menschen die Herzen. Es war eine wunderbare Zeit, da waren sich die beiden Frauen einig, wenn sie an die goldene Zeit in Galiläa dachten.

Bis sie nach Jerusalem kamen, vor ungefähr einer Woche. Am Anfang sah alles noch ganz gut aus. Die Leute, die zum Passafest in die Stadt gekommen waren, waren aufgeregt. Die Stadt flirrte. Als er dann kam, Jesus, von dem alle schon mal gehört hatten, waren sie begeistert. Sie bereiteten ihm einen großen Empfang, jubelten ihm zu und er präsentierte sich als der neue König. Was für ein aufregender Tag!

Überhaupt, diese ganze Woche war aufregend. Und sie konnten noch immer nicht glauben, was passiert war. Von himmelhoch jauchzend – zu zu Tode betrübt – im wahrsten Sinne der Worte. Innerhalb von ein paar Tagen war die Stimmung in der Stadt gekippt. Erst waren es einzelne, dann immer mehr. Und als Jesus im Tempel wütend wurde, über die Geldmacherei der Händler dort, eskalierte es. Die jüdische Elite hatte endlich einen Grund gefunden, ihn anzuklagen.

Zwar konnten sie noch in gemütlicher Runde ein gemeinsames Passamahl feiern, doch danach kam alles anders.

Die Frauen schluchzten, als sie sich an den Beginn der dann folgenden schrecklichen Tage erinnerten: Jesus hatte sich nur kurz für einen Moment zurückgezogen, um in Ruhe zu beten, da stürmten plötzlich römische Soldaten auf sie zu. Mit Schwertern und Stangen bewaffnet, nahmen sie ihn fest. Er wehrte sich nicht und sie führten ihn weg. Niemand konnte etwas tun, die beiden Frauen waren starr vor Schreck und einige der anderen waren schon geflohen. Es ging alles so schnell.

Was danach passierte, hatte Petrus ihnen erzählt. Er war den Soldaten nachgelaufen und konnte hören, wie sie ihn folterten. Noch jetzt bekamen sie Gänsehaut, wenn er von den Schlägen und Schreien aus dem Palast des Hohepriesters erzählte. Wieso konnten sie nichts tun? Wieso musste er das alles ertragen? Maria schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht verstehen… Zumal ja alles nur noch schlimmer wurde. Anfangs war es die Angst und die Ungewissheit, die sie alle fertig machten. Und dann wurde es Gewissheit: Die Hohepriester, die in ihm, dem Rabbi der einfachen Leute eine Konkurrenz sahen, bekamen Recht.

Jesus wurde zum Tode verurteilt. Wegen „Gotteslästerung“. Ausgerechnet er, der so eine beeindruckende Beziehung zu Gott hatte – ausgerechnet er sollte Gott gelästert haben? Sie konnten es immer noch nicht verstehen… Wie einen Verbrecher führten sie ihn vor. Er musste nach der ganzen Folter auch noch sein eigenes Kreuz tragen. Durch die Stadt, den Hügel hinauf, bis zur Stelle, an der es dann passieren sollte.

Sie hielten es nicht aus, länger daran zu denken. Der Tag war zu schrecklich gewesen. Sein leidendes Gesicht war ihnen noch zu deutlich vor Augen. So schwer, aber auch so erlösend muss es für ihn gewesen sein, als es vorbei war.

Und jetzt? Jetzt saßen sie hier mit ein paar der anderen und grübelten. Es war Sabbat, der Ruhetag. Auch zusammen waren alle mit ihrer Trauer allein. Sie teilten Erinnerungen und immer wieder schwiegen sie lange. Und weinten. Es war alles so sinnlos. Niemand konnte und durfte etwas tun.

Außer manchmal, da wagte es einer, die brennenden Fragen zu stellen, die sie sich alle irgendwie stellten: War es das jetzt für uns? Was machen wir denn jetzt, ohne Jesus? Kann es überhaupt weitergehen, ohne ihn? Wie konnte er so wunderbar von Gott reden und ist am Ende doch von ihm allein gelassen worden? Als König der Juden haben sie ihn verspottet und verurteilt… sind wir vielleicht einem Hochstapler hinterhergelaufen? Bis in die Nacht: Fragen über Fragen und am Ende nur Weinen und Schweigen.

Im Markusevangelium wird der Ostermorgen dann so geschildert (Mk 16, 1–8):

(1) Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben.

(2) Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. (3) Und sie sprachen untereinander: Wer kann uns den Stein von der Tür des Grabes wegrollen? (4) Und als sie zum Grab aufblickten, sahen sie, dass der große, schwere Stein schon weggerollt war.

(5) Und sie gingen in das Grab hinein und sahen einen jungen Mann auf der rechten Seite sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an und sie erschraken. (6) Er aber sprach zu ihnen: Erschreckt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. (7) Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. (8) Und die Frauen gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich.

Liebe Gemeinde, Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich. Was für ein Osterfest! Zwei schlaflose Nächte nach dem Tod Jesu am Kreuz hört der Schrecken für die Frauen nicht auf. Die Verschnaufpause am Sabbat war genug, jetzt wollen sie endlich tun, was sie tun können, denn alles ist besser als herumsitzen. Und so kommen sie in ihrer Verzweiflung ans Grab und wieder ist alles anders und schrecklich.

Der Stein ist weg. Jemand ist schon da. Ein fremder Mann sitzt im Grab und spricht zu ihnen: Er ist nicht da. Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten, hier ist er nicht. Er ist auferstanden. Geht nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen. Was ist denn jetzt schon wieder los? Fragen sich die Frauen am Grab. Wir wollten doch nur den Leichnam salben und nicht einmal das können wir jetzt tun. Jesus ist tot. Aber wo ist er denn bloß?

Die Frauen am Grab verstehen nicht. Sie hören nicht, was ihnen gesagt wird. Sie haben noch gar nicht begriffen, was das heißt: Jesus ist tot.  Und schon kommt wieder etwas Neues: Hier ist er nicht. Die Frauen sind verzweifelt. Sie fürchten sich und bekommen Angst. Furcht und Zittern, Angst und Erschrecken sind im Markusevangelium die einzigen Reaktionen, der beiden Zeuginnen am Ostermorgen.

Als ich den Text gelesen habe, habe ich mich gewundert. Kein Wort von Freude? Kein Wort von Fröhlichkeit? Im Gegenteil: Die beiden Frauen wissen erst einmal nichts besseres, als zu fliehen. Einfach nur weg. Decke über den Kopf. Raus aus der Stadt. Abschalten. Ich kann diese Reaktion nachvollziehen. Es gibt Momente, in denen versteht man die Welt nicht mehr. Da will man nur noch weg und alles erst einmal sortieren. Die Gefühle nehmen einen gefangen und man kann gar nicht mehr klar denken. Positive Botschaften prallen an einem ab. Alles ist nur grau in grau. Eine Hiobsbotschaft jagt die andere.

Ich vermute, der Absturz des Flugzeuges über den Alpen in der vergangenen Woche war so eine Reihe von Schreckensnachrichten für die Angehörigen und Freunde der Opfer. Die schlimmen Nachrichten hören nicht auf. Noch bevor man begreifen kann, was passiert ist, liegen die Wunden offen. Und jede neue Hiobsbotschaft streut Salz in diese Wunden. Mit dem Verstand kommen wir hier nicht weiter.

Wir können heute, zweitausend Jahre später singen: Er ist erstanden, Halleluja. Doch der Ostermorgen selbst ist anders. Kein Halleluja, keine Engel. Kein Licht, kein Siegeszug. Ein Mysterium. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Die Frauen begreifen diesen Satz am Ostermorgen nicht. Sie sind Gott selbst begegnet und wissen es nicht. Sie haben das Wunder der Auferstehung als erste mitbekommen Und verstehen es nicht.

Alles, was die Frauen am Grab tun wollten, ist nichtig geworden. Sie haben keine Kontrolle mehr über das, was ihnen geschieht. Das verunsichert sie. Die Frauen können ihren Augen und Ohren nicht mehr trauen. Alles, was sie tun wollen, funktioniert nicht. Das leere Grab, vor dem sie stehen, bietet viele neue Möglichkeiten, aber nicht die alte. Deshalb fliehen sie. Sie wissen nicht, was kommt. Das macht ihnen Angst.

Die Frauen, die frühmorgens vom Grab fliehen, sind in diesem Moment blind für Gottes wundersame Wege. Sie haben nicht bemerkt, dass genau dort, in dieser Offenheit des Moments das Geheimnis von Ostern liegt: Gott ist am Werk.

Die Karten werden neu gemischt und liegen ganz neu verteilt auf dem Tisch. Eigentlich ist an dieser Stelle plötzlich alles wieder offen. Der Tod Jesu ist nicht das Ende, mit dem sie scheinbar alle leben mussten. Der Tod Jesu ist von einem Ende zum Anfang geworden.

Welche riesigen Chancen für die Zukunft birgt dieser unverhoffte Moment?! Wann gibt es jemals einen Moment, der das Leben dieser Frauen so sehr auf den Kopf stellt? Wann gibt es jemals einen Moment, an dem so viele Tore offen stehen, wie an diesem Ostermorgen: alles ist anders, alles ist neu. Und Gott ist da.

Die Frauen, die hier am Grab stehen, brauchen Zeit, bis sie erkennen, welche Möglichkeiten, welche Perspektiven sich aus dieser Begegnung ergeben: Jesus ist nicht tot, er lebt! Es war nicht sinnlos, Jesus hinterher zu laufen – Gott selbst hat bewirkt, dass Jesus weiterleben kann. Wie sollten die Frauen am Ostermorgen diese Tragweite der Botschaft denn auch verstehen?

Ursprünglich endete das Markusevangelium noch vierzig Jahre nach Jesu Tod mit diesem Gefühl: Furcht und Entsetzen. Zittern und Angst. Obwohl es zu dieser Zeit schon Erzählungen von Begegnungen mit dem Auferstandenen gab, fand der Autor dieses Ende wohl passend für seine Version des Lebens Jesu.

Wir, zweitausend Jahre später, haben längst begriffen, welche Bedeutung die Auferstehung Jesu für sein Leben hatte: Weil wir an die Auferstehung von Jesus glauben, glauben wir auch daran, dass sein Leben ein besonderes war. Gott hat gegenüber dem Tod und gegenüber den kriminellen Mächten das letzte Wort behalten. Weil Jesus auferstanden ist, können wir glauben und hoffen, dass Unrecht Unrecht bleibt und Jesus mit seiner Botschaft der Liebe auf dem richtigen Weg war. Weil Gott das letzte Wort gegenüber dem Tod behalten hat, leben wir als Christen ein anderes Leben.

Deshalb wissen wir heute, dass es nicht dabei geblieben ist, was Markus beschreibt: Die Frauen, die zuerst am Grab waren, haben nicht für immer geschwiegen. Wir wissen heute, dass es Menschen gab, die von der Auferstehung Jesu gesprochen und sie bezeugt haben.

Irgendwann haben auch die Frauen von ihrer Erfahrung am Grab erzählt. Das ist für mich eine Ermutigung, dass auch sie eines Tages verstanden haben, dass Leid und Traurigkeit, dass Furcht und Zittern nicht die Oberhand behalten in der Erinnerung an Leben und Sterben Jesu. Vielleicht haben die Frauen und die anderen Jünger sich an den Satz erinnert, den der junge Mann im Grab zu ihnen gesagt hat: Geht nach Galiläa, sagt er, dort werdet ihr ihn treffen.

Galiläa, das bedeutet für die meisten Jünger und Jüngerinnen Jesu eine Rückkehr in die Heimat. Es ist die Gegend, wo sie alle herkommen. Dort haben sie als Fischer, Bauern oder Handwerker gearbeitet – für sie ist eine Rückkehr nach Galiläa eine Rückkehr in einen normalen Alltag mit der Familie.

Und doch ist die Rückkehr nach Galiläa nicht trostlos. Die Jünger und Jüngerinnen gehen nicht als dieselben Menschen zurück. Sie sind nicht mehr dieselben, wie damals, als Jesus sie angestiftet hat, mitzukommen. Die Zeit mit ihm hat sie verändert. Die Begegnung mit ihm, mit den anderen, mit Gott, hat sie verändert.  Und nicht zuletzt auch die Tage in Jerusalem. Sie sind auf ihrer Reise Gott begegnet und werden nach und nach den Mut finden, davon zu erzählen. Bis heute tun das Menschen in der ganzen Welt: Mit Gott unterwegs sein und von ihrer Begegnung mit ihm erzählen.

Vielleicht ist deswegen dieser Satz der Schlüsselsatz in der ganzen Geschichte der Auferstehung: Geht zurück nach Galiläa. Dort, so sagt es der junge Mann, werdet ihr ihn treffen. Die Begegnung mit Jesus hat euch verändert. Erzählt es der Welt und macht euch auf die Suche nach ihm in eurem Alltag: Dort, zwischen den Fischernetzen und Hobelspänen, zwischen Büroschreibtischen und Patientenakten, zwischen Einkaufswagen und Fußgängerampeln, dort werdet ihr ihm begegnen.

Amen.