Predigt am Ewigkeitssonntag 2014

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

Predigttext: 1. Korintherbrief 7,29–31

Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Liebe Gemeinde,

Abschiedlich leben. So könnte man diesen Briefabschnitt des Apostels Paulus überschreiben. Er hat ihn an die Gemeinde geschrieben, die ihm am meisten am Herzen lag. An die junge Christengemeinde in Korinth, der internationalen Großstadt, der blühenden Wirtschaftsmetropole und zugleich verrufensten Hafenstadt des antiken Griechenland. Umschlagplatz, Handelsmetropole, Arbeitsplatzmotor, Modestadt. Dorthin schreibt er: Fortan sollen die, die kaufen, so kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht.

Was soll das, Paulus? werden die Menschen gefragt haben. Menschen, die ungefähr so drauf waren, wie wir in westlichen Ländern heute. Ganz im Diesseits lebend. Produzenten und Konsumenten. Immer aktiv, mit der Illusion ewiger Jugend geschlagen.

Was willst du damit sagen, Paulus? Willst uns das Leben vermiesen? Warum kaufen, als behielten wir es nicht, und warum die Welt gebrauchen, als gebrauchten wir sie nicht?

Aus einem einzigen, alles entscheidenden Grund, sagt der Apostel: Weil „das Wesen dieser Welt vergeht“. Bewusst im Angesicht der Endlichkeit der Welt leben. Das ist für Paulus christliches Leben. Ein abschiedliches Leben. Das Wesen dieser Welt vergeht. Das heißt nicht, alles Leben dem Tod unterordnen. Aber es heißt, nicht der Illusion nachlaufen, unser Leben sei unlimitiert. Unser Konsum sei Lebenssinn. Unsere Beziehungen seien eine Art Besitz. Sich von diesen Illusionen befreien heißt ja nicht, nicht leben. Sondern heißt: bewusst leben.

Paulus widerspricht der gängigen Logik in Korinth und bei uns. Diese Wirtschaftslogik ist ja uns Verbrauchern beinahe in Fleisch und Blut übergegangen. Der Traum der ewigen Jugend, die uns das ewige Konsumieren ermöglicht, wir träumen ihn mit. Und erwachen jäh, wenn Krankheit, Abschied und Sterben in unser Leben treten. Denn all das: Krankwerden, Altwerden und Sterben sind uns zu Tabus geworden. Darüber redet man nicht. Das blenden wir aus.

Viele Trauernde erleben das so: Nicht nur, dass sie einen lieben Menschen verloren haben. Sondern auch, dass es dafür im Alltag, im Zusammensein mit Kollegen oder Bekannten wenig Sprache gibt. Wenig Raum des Verstehens. Dass das einen fremd und einsam macht.

Heute nun ist der Sonntag, an dem wir innehalten und unsere Trauer in den Mittelpunkt stellen. Viele sind hier, die einen nahestehenden Menschen verloren haben. Auch ich gehöre zu denen. Manchen ist das Kommen nicht leicht gefallen. Manche sind deshalb auch nicht gekommen. Manche haben Angst, dass der heutige Sonntag mit seinem Ritual, mit seinem Gang zum Friedhof, gerade vernarbte Wunde wieder aufreißt.

Aber zugleich ist er auch eine Wohltat, dieser Sonntag, an dem wir innehalten dürfen. An das denken, was gewesen ist. An die denken, die an unserer Seite waren. Und danach fragen, was dann kommt… dann am Ende unsrer Zeit, am Ende aller Zeit.

Abschiedlich leben, empfiehlt der Apostel Paulus. Das klingt manch einem vielleicht nach Mittelalter und Renaissance, wo man nicht wie heute die ars vivendi pflegte, die Kunst des Lebens, sondern die ars moriendi, die Kunst des Sterbens. Mit großer Versammlung, lange vorüberlegten letzten Worten, Segen für die Kinder, Gebet und Abendmahl. Und vielleicht war das alles ja gar nicht so unweise, denke ich manchmal in unserer Sterbens-vergessenen Zeit. Aber abschiedlich Leben ist doch auch noch etwas Anderes, kann auch etwas für heute sein. Kann heißen: realistisch Leben. Kein Tabu aus der Wirklichkeit machen. Das dürfte sehr befreiend sein. Nicht leben, als hätte ich für alles unbegrenzte Auswahlmöglichkeit, unbegrenzte Ressourcen, unbegrenzt Zeit. Nicht leben auf Kosten meiner Nächsten und meiner Kinder, als hätte ich noch eine zweite Welt im Kofferraum. Auch nicht leben, als müsse sich meine Welt nur um mich selber drehen, als hätte ich Versöhnung und Vergebung nicht nötig.

Liebe Christen, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe gelegentlich wunderbare Erfahrungen mit Menschen gemacht, die in diesem Sinne weise waren und sind. Die befreit lebten, weil sie die Endlichkeit unserer Welt und auch ihr eigenes Sterben nicht ignorierten. Diese Menschen sind in der Regel nicht depressiver oder trauriger, als wir andere. Eher im Gegenteil. Das Leben abschiedlich sehen zu können, wie es Paulus empfiehlt, das ist befreiend. Es ist auch in der Gesellschaft ein bisschen vorangekommen, hat in den letzten Jahren immerhin den Fortschritt in der Palliativmedizin möglich gemacht. Und die Hospize. Wenn Ärzte und Krankenhäuser es nicht mehr als Niederlage ansehen, dass jemand sterbenskrank ist und ihn dann nur noch irgendwohin abschieben. Sondern es als ihre Aufgabe erkennen, den Menschen die Schmerzen zu lindern. Und die Würde zu erhalten, bis zuletzt. Und einen Rahmen möglich machen, wo Zuwendung und Liebe zählen. Was für ein Fortschritt.

Barbara Handke ist Direktorin der Caritas in Wiesbaden. Und nebenbei ehrenamtliche Seelsorgerin in einem Hospiz. Ein Hospiz sei ein guter Ort, erzählte Frau Handke vorigen Sonntag der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (Ausgabe vom 16. November 2014, S. 2). Und die Arbeit in einem Hospiz sei „schön“. „Wie bitte? Was ist daran schön?“, fragte der Journalist zurück, der Barbara Handke interviewte. Diese Arbeit sei befriedigend, meint die Interviewte, weil man für Menschen in ihren letzten Lebenstagen oder –stunden da sein könne. Und: Man kriege ganz viel zurück! Die Menschen, denen man durch die Palliativmedizin die Schmerzen nehme, seien „außerordentlich dankbar. Und die Angehörigen auch. Wenn man die Begabung“ habe, „zu einem Gefühl der Ruhe zu verhelfen.“ Denn genau darum gehe es: „Zur Ruhe kommen. Den Tod zu akzeptieren.“

„Sterben ist doch so schrecklich.“, entgegnete entsetzt der Journalist. Nein, es sei eben nicht schrecklich, meinte Barbara Handke, jeder sterbe seinen Tod, ja, aber das müsse nicht schrecklich sein. Auch in das Hospiz, in dem Handke arbeitet, kommen manchmal Menschen mit dem Wunsch: „Können Sie mir nicht eine Spritze geben? Ich möchte so schnell wie möglich von meinem Leiden erlöst sein. Wenn dann jedoch der Palliativmediziner da war und diesen Menschen medikamentenmäßig eingestellt hat, dann ist dieser Wunsch verschwunden.“ Und nach zwei, drei Tagen höre man nichts mehr davon, gar nichts mehr. Die Menschen nähmen es vielmehr dankbar an, ihr Leben bis zuletzt zu leben, wenn sie von den Schmerzen und von der Angst davor befreit sind. Barbara Handke erzählte in dem Interview von einem Pfarrer. Der war ein verbitterter Eigenbrötler und kam mit kaum jemandem zurecht. Er hatte alles aufgegeben und wollte unbedingt in dieses Hospiz, um sein Leben ganz bewusst zu Ende zu bringen. Ohne Radio, ohne Fernsehen, ohne Ablenkung. Nach und nach erzählte er. Er erzählte sein ganzes priesterliches Leben. Und sein privates. „Er ist alles losgeworden und am Ende zufrieden aus der Welt gegangen.“, sagt Caritas-Direktorin Handke.

Das Wesen dieser Welt vergeht. Wenn wir das annehmen können, heißt das vielleicht auch, dass wir uns denen zuwenden können, die gehen müssen- anstatt uns hilflos-verschämt abzuwenden. Heute wird viel über sogenannte Sterbehilfe diskutiert. Ohne für jeden Extremfall hier kirchlich-oberschlau eine Lösung zu empfehlen, denke ich doch manchmal, viel eher müsste es um Zuwendung gehen. Um die Linderung von Schmerz, um Schmerzmedizin, aber auch ums Zuhören, ums da sein, darum, dass Menschen für Menschen da sind, auch in Krankheit, auch am Ende. Natürlich auch ums Sterbenlassen können. Nicht auf Teufel-komm-raus das Leben mechanisch verlängern müssen. Für das alles bräuchte es keine Gesetzesänderungen. Aber Mentalitätsänderungen. Die sind manchmal schwerer.
Das Wesen dieser Welt vergeht. Und was kommt dann? Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt (2 Petr 3,13). Sagen die Leute der Paulinischen Gemeinde im 2. Petrusbrief. Sie greifen damit Verheißungen auf, wie des 126. Psalms, den wir vorhin gebetet haben. Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Traumbilder, Hoffnungsbilder – tief drinnen im Menschen. Verheißungen aus uralter Zeit. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. Verheißungen, die den Weg weisen. Machtvolle Bilder, die uns von Gottes neuer Welt erzählen. Gottes Welt, die uns alle umfasst, die wir seine Kinder sind: Lebende und Tote. Christus, der unser Sterben und unseren Tod geteilt hat. Der durch unseren Tod durchgegangen ist, damit wir das Leben haben.

Der Apostel Paulus, der den Korinthern vom abschiedlich Leben geschrieben hat, er wird kurz vor seiner letzten Reise noch einen Brief schreiben. Den Römerbrief – sein Testament sozusagen. Und da fasst er nochmal alles zusammen. Kurz vor seinem Tod. Da schreibt er: wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.

Unser neues Leben – es fängt jetzt schon an, sagt er. Das ewige Leben. Vor dem Tod. Die andere Dimension scheint schon hindurch. Die neue Welt Gottes. Mit Jesu Worten: Gottes Reich ist mitten unter euch.

Das bedeutet einen Abschied von der bisherigen Logik und den bisherigen Regeln. Es bedeutet auch Abschied von manchen Selbstbildern. Was sollen noch Standesdünkel und Bildungshochmut, Geldadel und Klassenunterschied, wenn das Wesen dieser Welt vergeht? Da macht sich plötzlich eine ungeheure Geschwisterlichkeit Raum. Schauen Sie in der Bank einmal neben sich: Da sitzt ein Bruder oder eine Schwester. Heben Sie die Augen, wenn Sie die Busfahrerin sehen oder den Nachbarn. Und die alte Frau im Supermarkt und den Zigeunermusiker. Die haben die Augen einer Schwester oder eines Bruders.

Gottes Maßstäbe wollen schon gelten. Die meist menschenfreundlicher sind, als die unseren. Unsere Lieben, die uns vorausgegangen sind, schauen das schon ganz unverstellt. Gottes Licht leuchtet ihnen. Und alle Tränen sind abgewischt von ihren Augen. Wir leben noch aus der Verheißung. Und schon mit den neuen Regeln. Noch einmal Paulus: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Zu deutsch: Beziehungen sind ein Geschenk, aber kein Besitz. Weinen und Lachen werden anders gewertet und anders gesegnet, als bisher. Kaufen kann man viel, behalten nichts. Die Welt können wir gebrauchen, aber nicht in ihr aufgehen. Denn über uns allen, Lebenden und Toten, geht Gottes Reich auf. Schon jetzt.

Amen.