Predigt am Sonntag Sexagesimae 2016 in der Bergkirche
Predigttext: Sacharja 12,9–13,1
An jenem Tag werde ich danach trachten, alle Völker zu vernichten, die gegen Jerusalem anrücken. Doch über das Haus David und über die Einwohner Jerusalems werde ich den Geist des Mitleids und des Gebets ausgießen. Und sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben. Sie werden um ihn klagen, wie man um den einzigen Sohn klagt; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint. An jenem Tag wird die Totenklage in Jerusalem so laut sein wie die Klage um Hadad-Rimmon in der Ebene von Megiddo. Das Land wird trauern, jede Sippe für sich: die Sippe des Hauses David für sich und ihre Frauen für sich; die Sippe des Hauses Natan für sich und ihre Frauen für sich; die Sippe des Hauses Levi für sich und ihre Frauen für sich; die Sippe des Hauses Schimi für sich und ihre Frauen für sich; alle überlebenden Sippen, jede Sippe für sich und ihre Frauen für sich. An jenem Tag wird für das Haus David und für die Einwohner Jerusalems eine Quelle fließen zur Reinigung von Sünde und Unreinheit.
Liebe Schwestern und Brüder,
die Theologen streiten sich. Das hat an und für sich keinen großen Neuigkeitswert, wenn man das sagt. Das haben wir vom Judentum geerbt. Auch da wird gerne gestritten, über die rechte Auslegung des Gesetzes vor allem. Manchmal mit harten Bandagen, manchmal ganz versöhnlich. Und so ist es auch bei
uns, es wird gern gestritten. Unter den Konfessionen kennen wir das ja auch. Für die Gemeinden und die
Gläubigen ist das nicht immer einfach zu ertragen.
Eine Frage, die immer wieder kontrovers diskutiert wird, und zwar nicht entlang der Konfessionslinien,
sondern auch intern, ist die Frage, welche Bedeutung das Alte Testament für uns Christen eigentlich hat.
Eine uralte Frage, längst erledigt, könnte man sagen. Stimmt auch, taucht trotzdem immer wieder auf.
Gerade letztes Jahr wieder. Ein Professor Norbert Slenczka aus Berlin hatte das mal wieder aufgeworfen.
Zum Teil wird das gerade im Blick auf unsere jüdischen Glaubensfreunde vertreten, deren Bibel, wenn
man so will, man nicht einfach vereinnahmen dürfe. Hinzukommt die historisch-kritische Methode der
Bibelwissenschaft, die eine zeitliche und örtliche Einordnung der Texte vorgenommen hat und auf ihre
historische Bedingtheit hinweist.
Ganz einfach ist für uns der Umgang mit dem Alten Testament nicht. Viele stoßen sich an den harten
Formulierungen und blutigen Geschichten, die sich dort finden. Finden auch ein anderes Gesellschaftsbild vor, zum Beispiel was das Verhältnis von Mann und Frau angeht. Obwohl sich gerade dazu genauso scharfe Aussagen im Neuen Testament finden.
Für manche mit einem relativ schlichten Weltbild ist das Alte Testament Zeugnis für ein ganz anderes
Gottesbild, das den strafenden, harten und unbarmherzigen Gott zeigt, das Neue Testament hingegen
den liebenden Gott. Das ist natürlich viel zu einfach gedacht und stimmt überhaupt nicht. Aber es spukt
auch immer wieder in unseren Köpfen herum.
Gerade unsere Textstelle aus dem Buch Sacharja ist ein Beispiel dafür, wie wichtig das Alte Testament
für uns ist, vor allem die prophetischen Texte. Natürlich lesen und hören wir es als Christen. Ein
gläubiger Jude wird es anders wahrnehmen als wir. Und es liegen weit über 2000 Jahre zwischen der
Abfassung dieses Textes und uns heute. Man wird es damals noch ganz anders verstanden haben. Die
jeweilige Zeit, der jeweilige Hintergrund öffnet diesen Text für seinen je unterschiedlichen Sinn. Daher
ist es doch völlig legitim, wenn wir unsere christliche Perspektive einnehmen und beibehalten.
Für uns ist die erste Formulierung, an der wir hängen bleiben: „Sie werden auf den blicken, den sie
durchbohrt haben.“ Ein Wort, das in der Johannes-Passion wieder auftaucht und auf Jesus bezogen
wird. Nachdem ein Soldat in die Seite Jesu gestoßen hatte, wird es zitiert. Der Prophet spricht von Jesus,
von Jesu Passion, von seinem Leiden und seinem Tod. So deutet es das Johannes-Evangelium. Die ganze
Passage, nicht nur diesen einen Satz, können wir so lesen: „Sie werden um ihn klagen, wie man um den
einzigen Sohn klagt; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint. An jenem
Tag wird die Totenklage in Jerusalem laut sein… Das Land wird trauern.“
Spricht der Prophet hier nicht wirklich von Jesus und von dem, was er durchlitten hat? Und von der
Trauer, die alle ergriffen hat, als er am Kreuz starb? Der, auf den so viele ihre Hoffnung gesetzt hatten.
Bitter haben sie geweint und laut geklagt. Wie bei Sacharja beschrieben.
In der Geschichte unseres Glaubens gibt es unendlich viele Darstellungen dieser Tränen und dieser
Klage. Maria und Johannes unter dem Kreuz, oft auch Maria Magdalena, die Pieta, die Kreuzabnahme
und Grablegung, die Beweinung Christi: all diese Darstellungen sind inspiriert von dieser Sacharja-Stelle.
Es ist der Geist des Mitleids und des Gebets, den wir in denen vermuten, die um Jesus getrauert haben.
Es ist uns wohl vertraut, dass wir um Menschen trauern, die von uns gegangen sind. Besonders trauern
wir, wenn sie vor ihrem Tod viel Leid auszuhalten hatten. Oder wenn sie uns besonders nahe standen.
Beides gilt doch auch für Jesus. Können wir um Jesus trauern? Trauen wir uns das? Oder melden sich
Stimmen, die sagen: das ist nicht angemessen, es kommt ja schließlich Ostern?
Solche Stimmen kennen Sacharja nicht. Und auch nicht Jesus, wie er uns in diesem Prophetenwort
begegnet. Denn es ist Jesus, der uns hier begegnet. Trauen wir uns doch, um ihn einmal zu trauern. Dass
der Geist des Mitleids und des Gebets auch über uns ausgegossen werde. Wer um Jesus trauert, um ihn
klagt und weint, der kommt ihm ganz nah.
Es gibt in der Grabeskirche in Jerusalem einen kleinen, meist unbeachteten Ort. Ein kleiner Raum,
vollkommen leer. Für die orthodoxen Christen ist das das Gefängnis Jesu, in dem er vor seiner
Hinrichtung saß. Und manche besuchen diesen Ort, um Jesus zu trösten, der vor Angst Blut schwitzt, wie wir Blut schwitzen würden. Sie trösten ihn dort, und sie machen die Erfahrung, dass sie selbst getröstet diesen Ort wieder verlassen. Nur wer tröstet, kann auch getröstet werden. Nur wer trauert, kann auch den Trost der Hoffnung erfahren.
Das ist die Erfahrung, die auch Sacharja beschreibt. Am Ende sagt er: „An jenem Tag wird für das Haus
David und für die Einwohner Jerusalems eine Quelle fließen zur Reinigung von Sünde und Unreinheit.“
Eine Quelle tut sich auf in unserer Trauer, in unserer Angst. Eine Quelle, deren Ursprung die
Auferstehung Jesu ist. Ein österlicher Text ist diese Sacharja-Stelle, denn die Osternacht ist auch der
Ursprung unserer Quelle des Lebens, der Taufe. Alle Reinigung, alles Leben finden wir darin.
Wie wertvoll und wie schön sind solche Texte für uns. Das ganze Alte Testament, das Wort Gottes ist
Fleisch geworden in Jesus Christus. Alles, was wir dort lesen, bringt uns dem Geheimnis der Erlösung in
Christus näher. Hier können wir es ganz deutlich hören: der Herr ist auferstanden. Amen.
Dechant Bernhard Stecker
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