»Gestatten, mein Name ist … Berg« – Predigt zum 1. Sonntag der Sommerkirche

Liebe Gemeinde!

Als ich vor zwei Jahren hier in der Bergkirche die Ehre hatte den Gottesdienst mit Ihnen zu feiern, wurde ich als ökumenischer Gast begrüßt. Das hat mich ein wenig irritiert. Gebürtig komme ich aus Bünde und dort gehören wir kirchlich zur preußischen Union. Lutheraner und Reformierte wurden unter König Friedrich Wilhelm III. zu einer evangelischen Kirche vereinigt. Jedes Kirchspiel im damaligen Preußen durfte sich sein eigenes Bekenntnis wählen. Heidelberger Katechismus oder der Kleine Katechismus von Martin Luther wurden von den Konfirmanden und Konfirmandinnen gelernt. Die Gottesdienstordnung wurde zusammengestückelt und hatte viele rote Balken. Diese Balken kennzeichneten die Stücke im Gottesdienst, die in den jeweiligen Gemeinden wegfallen konnten. Im Gottesdienstbuch hieß es: Der Pfarrer tritt an den Altar/Abendmahlstisch. So war und so ist das in der preußischen Union seit 1817. Vor 36 Jahren erlebte ich nun in Osnabrück, dass es eine große lutherische Landeskirche gibt und eine etwas kleinere reformierte Landeskirche, die nicht nur durch einen Querstrich in der Gottesdienstagende getrennt sind.

Schon an den Namen der evangelischen Kirchengemeinden war zu erkennen, nach welchem Bekenntnis in diesen Kirchen gepredigt wurde. In der lutherischen Kirche habe ich in den letzten 36 Jahren an der Matthäus-, Paul-Gerhardt-, Luther-, Melanchthon- und Lukaskirche gedient und es gibt sogar St.-Marien- und St.-Katharinen-Kirchen, als ob es gar keine Reformation gegeben hätte. So sind die Namen der reformierten Gemeinden nicht personen-, sondern eher auf Orte bezogen: Atterkirche, Bergkirche, oder auf große theologische Zusammenhänge: Gnaden-, Friedens-, oder Erlöserkirche.

Ja, ich durfte in der Schule von Ilse Landwehr lernen, dass man reformierterseits geistlichen Personen gegenüber eher zurückhaltend eingestellt ist. In Leer werden die Versammlungsräume eher nach Orten der Reformation als nach Personen der Reformation benannt. Calvin oder Zwingli tauchen auch im Namen des Bekenntnisses nicht auf, im Gegensatz zum lutherischen Bekenntnis.

Martin Luther hätte sich über diese Grundeinstellung sicherlich gefreut. Er soll 1522 gesagt haben:

„Ich bitte, man soll mein Namens verschweigen und sich nicht lutherisch, sondern Christen nennen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein. So bin ich auch für niemand gekreuzigt. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollte mit meinem heillosen Namen nennen? Nicht also, liebe Freunde, lasst uns tilgen die parteiischen Namen und Christen heißen, des Lehre wir haben.“

Es kam dann ganz anders. Lutheraner und Reformierte traten in einen manchmal unwürdigen Streit um die Unterschiede des jeweiligen Bekenntnisses. 1817 hielt das der preußische König nicht mehr aus, er selbst und sein Haus waren reformiert, seine Adligen und sein Volk größtenteils lutherisch, dazu kamen die Hugenotten und die Salzburger, die in der Gegenreformation Schutz in Preußen gefunden hatten. Die preußische Union wurde zu einem Vorbild der Toleranz, des unterschiedlichen aber freundlichen Neben- und Miteinanders der protestantischen Konfessionen. In der EKD sind mittlerweile alle Landeskirchen unter einem Dach versammelt und auch in Niedersachsen sind in der Konföderation alle fünf Landeskirchen unter einem gemeinsamen Dach. Viele rechtliche Dinge werden so gemeinsam entschieden.

Martin Luther betonte 1522, dass dieses gemeinsame Dach Jesus Christus, der gekreuzigte und auferstandene Herr ist, der uns zu Christen und Christinnen macht. Er ordnet diesem Christus sogar die unterschiedlichen Bekenntnisse unter. Die Bekenntnisse, um die man in der Vergangenheit gestritten und gekämpft hat, die Bekenntnisse für die man bereit war zu sterben, wie der Liederdichter Paul Gerhardt, der lieber seine Anstellung als Pfarrer preisgab, als den Streit zwischen Reformierten und Lutheranern von seiner Seite einzustellen.

Und heute, im Jahr 2016, fällt es den Menschen sicherlich noch schwerer, den substanziellen Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten zu entdecken. Manchmal bleibt nur das zusammengenähte oder offene Beffchen übrig. Es sind Nuancen, die uns unterscheiden, für manche von uns entscheidende Nuancen, aber eben nur Nuancen. Bevor man über Unterschiede spricht, sollte man erst einmal über Verbindendes reden, sozusagen ein Fundament schaffen, auf dem man stehen kann, ein Fundament, das hält und verbindet.

Die reformierte Gemeinde und die lutherische Südstadtkirchengemeinde waren daher vor zwei Jahren gemeinsam im Heiligen Land unterwegs. Auf den Spuren unseres gemeinsamen christlichen und jüdischen Glaubens haben wir gemeinsam viele Entdeckungen gemacht. Wir waren an den Stätten, an denen Mose und Jesus gewirkt haben sollen. Wir haben eine beeindruckende Fahrt über den See Genezareth gemacht und an dessen Ufer einen Mitchristen getauft. Wir haben jüdischen Glauben und israelische und palästinensische Konflikte erlebt. An einem Sonntagmorgen haben wir den Tempelberg besucht und dort ein moslemisches Heiligtum gesehen, wir waren sofort danach an der Klagemauer und haben mit Juden zusammen gebetet und anschließend um 11 Uhr in der Erlöserkirche einen evangelischen Abendmahlsgottesdienst mit der deutschen Jerusalemer Gemeinde gefeiert. Drei Religionen an einem Sonntagmorgen, das war schon ein sehr intensiver Tag des Herrn.

In diesem Jahr werden wir im Rahmen des Reformationsjubiläums wieder gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen. Nachdem wir das Fundament unseres Glaubens gesichert haben, werden wir im Oktober uns gemeinsam den Wurzeln des reformierten Bekenntnisses in Süddeutschland, im Elsass und in der Schweiz zuwenden. Wir werden dies lutherisch tun, indem wir uns auf die Spuren machen von Philipp Melanchthon, Huldreych Zwingli, Johannes Calvin und den Straßburger Reformatorinnen. Gemeinsam das jeweilig andere Bekenntnis erleben, das wird unsere Reise spannend machen. Ich bin gewiss, dass wir dabei mehr verbindendes als trennendes finden werden.

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?“, so haben wir gemeinsam diesen Gottesdienst mit Psalm 121 begonnen.

Wer auf Jerusalem zufährt, der sieht als erstes diese Berge, von denen Hilfe erwartet wird. Der Tempelberg mit dem jüdischen Tempel, der Ort der Gegenwart JHWHs. Heute ein Berg, auf dem Allah, der Gott der Muslime verehrt wird. An seinem Fuß beten die Juden um Erlösung, und wenige Schritte davon entfernt wird in der Grabeskirche der Hügel verehrt, auf dem Jesus gekreuzigt wurde. Berge und Hügel der Erlösung mitten in der Stadt des Friedens, der Stadt Jerusalem. Immer wieder sind es die Berge, von denen die Menschen Erleuchtung und Erlösung erwarten. Mose empfängt die Zehn Gebote aus der Hand Gottes auf dem Berg Horeb und Jesus erlebt auf einem Berg die Erscheinung von Mose und Elia. Auch das ist eine sogenannte Epiphanie, eine Gottesbegegnung.

Und daher ist es nicht verwunderlich, dass Matthäus besonders einprägsame und bedeutende Worte Jesu auf einem Berg verortet. Die sogenannte Bergpredigt, sie konkretisiert die Zehn Gebote und die Lehre Jesu mit steilen und überspitzen Worten. Spätere Generationen werden diese literarische Sammlung des Matthäus dann wieder auf einem konkreten Berg verorten. Als Israelpilgerer wird man dann auf den Berg der Seligpreisungen geführt. Das ist ein wunderschöner Garten mit einer römisch-katholischen  Kirche aus den 50er Jahren, sie liegt über dem See Genezareth. Es ist ein Berg der Stille, des Gebets und des Gesanges. Ja, man könnte sich vorstellen, dass Jesus hier gelehrt und gepredigt und gebetet hat.

Matthäus hat bewusst diese Worte Jesu auf einen Berg verortet, er wusste über die Symbolkraft der Berge in der Bibel.

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe. Meine Hilfe kommt vom Herrn der Himmel und Erde gemacht hat.“

Berge sind Orte, die meinen Blick weiten, wenn ich den Gipfel erreiche. Beim Aufstieg habe ich nur den mühsamen Weg vor Augen. Ein Weg, der nicht enden will. Einmal in meinem Leben habe ich im Salzburgerland einen Berg mit Berghütte bestiegen. Der Weg war echt mühsam und Kräfte zehrend. „Wie lange noch?“, war meine Frage. „Noch eine Stunde, dann haben wir es geschafft!“ Noch eine Stunde, die Schuhe drückten, die Knie taten weh, Hemd und Hose waren nass vom Schweiß! Und dann, nach 30 Minuten, endlich war die Hütte in Sicht und noch viel mehr. Ich werde den Ausblick auf diesem Berg mein Leben lang nicht vergessen. Atemberaubend weit konnten wir ins Salzburgerland schauen. Wo uns im Tal der Blick von den vielen Bergen verwehrt wurde, wurde hier unser Blick geweitet.

Nichts anderes geschieht in der Bergpredigt. Unser Blick wird geweitet über den Tellerrand unserer menschlichen Erfahrungen hinaus. Unser menschlicher Blick ist begrenzt durch Leiden und Tod, durch das Bewusstsein der Endlichkeit. Das Wissen um unseren Tod macht unser Leben mitunter eng und begrenzt. Manchmal kann man nur neidisch auf die Tiere schauen, die von diesem Bewusstsein ausgeschlossen sind. Sie können allein leben für die Nahrungsaufnahme und für die Fortpflanzung, das Leiden und der Tod eines Mitgeschöpfes geht über ihr Bewusstsein hinaus. Bei uns Menschen ist es anders. Leid und Tod eines anderen Menschen tangieren und berühren uns. Wir stellen darum Fragen an das Leben und an den Tod. So ein Aufstieg kann sehr mühsam und sehr Kräfte zehrend sein und manchmal sehen wir nur den Weg, spüren die eigenen Schmerzen und die Anstrengung.

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“

Christlicher Glaube bedeutet, Gott nimmt uns mit auf einen Berg und weitet unseren Blick über den mühsamen Aufstieg hinaus.

Auf diesem Hügel steht ein Kreuz. An diesem gekreuzigten Jesus sehen wir, wie der unsterbliche Gott an unserer Seite bleibt und unseren Tod stirbt, damit wir an seiner Ewigkeit Anteil haben. Er lädt uns ein über den Tod hinaus zu schauen. Einen Blick zu wagen in Gottes Ewigkeit. Der Gekreuzigte ist der Auferstandene.

Daher verehren die Menschen in der Grabeskirche von Jerusalem das leere Grab und unser Reiseleiter sprach immer von der Auferstehungskirche und ärgerte sich über uns, dass wir sie die Grabeskirche nannten. Leidenschaftlich kämpfte er für den Namen Auferstehungskirche – wohlweislich, dass dieses Ereignis das Christentum von den beiden anderen Religionen unterscheidet.

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe. Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“

Der Berg ist also nicht nur eine Ortsangabe, sondern auch ein Synonym für Gottesbegegnungen und Gotteserfahrungen.

Bei der Führung durch die Bergkirche bekommt man erklärt, dass der Architekt wollte, dass man durch die Fenster der Bergkirche auf die Welt schaut und auf die ökumenischen Geschwister. Bei aller Verkündigung, die hier geschieht, wird Gott ins Gespräch gebracht mit der Welt da draußen.

Die Lutherkirche, die zur gleichen Zeit entstand, ist als Burg konzipiert. Es wurde sogar ein großes Fenster neben der Kanzel zugemauert mit der Begründung, dass der Prediger durch die Morgensonne nicht geblendet sein soll. Fenster in unserer Lutherkirche sind wie Schießscharten gebaut, aus denen man nicht hinausschauen kann. Ja, so hat sich Kirche auch einmal verstanden, als Ort der eigenen Rechtgläubigkeit, als Schutzort vor der bösen Welt.

Aber eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Sie ist von weitem sichtbar, wie ein Licht in der Dunkelheit. So hat es Jesus in der Bergpredigt des Matthäus festgestellt. Daher ist es gut, wenn wir als Kirche sichtbar bleiben in dieser Welt. Das Wort von der Versöhnung, Vergebung für verpasstes und missglücktes Leben, Worte der Hoffnung, wenn alle nur den steilen und mühsamen Aufstieg sehen, das tätige Bekenntnis zu Barmherzigkeit und Liebe, der Einsatz für Frieden und Versöhnung sind die Lichter, die auf dem Berg leuchten. Sie bleiben gestern wie heute nicht verborgen und sind wichtig für uns als christliche Gemeinde und für die Menschen in unserer Stadt und in unserem Land.

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe, meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“

Die Bergkirche heißt nicht Westerbergkirche. So wie die reformierte Bergkirche auch Bilder und Kreuze hat. Und vielleicht könnte man daher den Namen der Bergkirche nicht nur mit dem Ort des Westerberges zusammenbringen. Vielleicht ist der Name Bergkirche mehr als eine Ortsangabe. Vielleicht ist der Name Bergkirche auch ein geistliches und spirituelles Programm und damit ein bedeutungsvoller Name und passt daher in den ökumenischen Reigen der St.-Katharinenkirche, des Petrusdomes und vielleicht sogar der Lutherkirche. Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch, sondern künden von dem unverwechselbaren Inhalt des Namensinhabers, und daher ist es gut, dass wir uns nicht in der Westerbergkirche, sondern in der Bergkirche heute als Gemeinde Jesu versammelt haben.

Amen.

Diakon Dirk Hartung